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Oberkommissarin Sandra Epping hat Kurzgeschichten geschrieben, um Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch im Netz zu schützen.
Fake-Lover im Netz
Cybergrooming ist eine echte Bedrohung für Kinder und Jugendliche. Kriminaloberkommissarin Sandra Epping ist den Tätern auf der Spur.
Streife-Redaktion

Die erste große Liebe. Er schickt dicke rote Herzen. Sie schickt dicke rote Herzen zurück. So beginnt die vermeintliche Love-Story zwischen zwei 13-Jährigen über WhatsApp. Sie endet im Horror, denn sie ist ein Teenie – er in Wahrheit nicht. Das Polizeiprojekt „Cyber-Emotions“ aus der Serie „Storytelling“ nach dem Gütersloher Modell will Kinder vor sexuellem Missbrauch im Netz schützen.

Pling. Schon wieder eine Nachricht von Nick. Blond gegeltes Haar, grüne Augen, die tief und geheimnisvoll blicken. Er schreibt: „Ich habe mich in dein Profilbild verliebt.“ Marie kann ihr Glück nicht fassen. Traumprinz datet unscheinbares Zahnspangenmädchen mit Pickeln – sie. Pling. Schon wieder er: Sie sei hübsch. Pling: Er habe noch nie mit einem Mädchen so intensive Chatgespräche geführt. Pling: Sie könne ihn für immer haben ... Pling. Pling. Pling. Den ganzen Tag, bis spät in die Nacht. So geht Flirten im Netz – ganz einfach, aber auch gefährlich.

Was ist Wahrheit, was Fake? „Das kann in der virtuellen Welt niemand wissen“, sagt Oberkommissarin Sandra Epping (39) aus Wesel. Sie hat die Geschichte von Marie für die Kriminalprävention aufgeschrieben. Eine Geschichte, die wirklich so passiert ist. Nur den Namen des Mädchens hat sie geändert. „Kinder bekommen immer früher ein Smartphone mit freiem Internetzugang zur Verfügung gestellt. Wenn nun die erforderliche Vermittlung der Medienkompetenz fehlt, sind Kinder den Gefahren im Netz schutzlos ausgeliefert“, erklärt Epping. Sie erzählt in „Marie“, wie sich Nick in das Leben des Mädchens schlich, ihr Vertrauen missbrauchte und sie schließlich erpresste.

Die Geschichte entstand während der Corona-Pandemie, als viele Kinder allein vor ihren Tablets, Computern und Smartphones saßen. Im Kreis Wesel stiegen die Zahlen bei sexuellem Missbrauch von Kindern stark an. „Viele sind zu sorglos im Umgang mit Bildern und Daten“, so die Kriminaloberkommissarin. Inzwischen wurde „Marie“ vertont. Unterstufen-Lehrer nutzen die Kurzgeschichte zur Medienerziehung – nicht nur in Wesel, sondern inzwischen deutschlandweit.

„Cyber-Emotions“ überschrieben Epping und ihre Kolleginnen und Kollegen die Hörgeschichten, zu denen auch die von Tom gehört – dem männlichen Gegenstück von Marie, dem beim Daddeln aufgelauert wird. Wie Marie wurde er ein Opfer von „Cybergrooming“. So nennt man es, wenn Täter mit Fake-Profilen Kinder und Jugendliche auf Instagram, TikTok und Snapchat oder in Videospielen anquatschen und dann ihre Unsicherheiten geschickt ausnutzen, um von ihnen intime Bilder und Videos zu bekommen.

Sandra Epping sagt: „Erwachsene wissen, was Kinder und Jugendliche in ihrer (vor-)pubertären Phase hören bzw. lesen wollen. So verschaffen sie sich das Vertrauen ihrer Opfer. Fotos von sich im Netz sind wie Tattoos eben nur sehr schwer zu entfernen. Sobald ein Bild versendet wurde, ist die Kontrolle über das Bild verloren.“

Ein Fremder ist noch längst kein Freund und wenn er ihr noch so schöne tiefgrüne Augen macht. Heute weiß Marie das. Für die Einsicht musste sie bitter bezahlen. Als Nicks Anfrage kam, hat sie einfach nur auf „Annehmen“ gedrückt. Pling. Nach 14 Tagen fragte Nick: „Kannst du Fotos von dir schicken?“ Pling. Marie schickte ihm eines. Monate später wird sie bei der Polizei aussagen: Man hat jeden Tag stundenlang gechattet. Er schien ihr nicht mehr fremd. Pling. Er habe Sehnsucht. Pling. Er würde sie so gern treffen. Pling. Aber leider wohne er ja in Berlin. Pling. Pling. Pling. Irgendwann wollte Nick mehr Haut sehen. Pling. Marie zögerte. Pling. Es kamen Vorwürfe: „Liebst du mich denn nicht mehr?“ Sie hatte Angst, ihn zu verlieren.

Die 8. Klasse der GeschwisterScholl-Gesamtschule in Moers. Die Schülerinnen und Schüler diskutieren über die kriminalpräventive Kurzgeschichte von Marie. Zehn Minuten dauert die Kurzgeschichte, die Epping selbst eingelesen hat – ohne Hintergrundmusik. „So kann sich jedes Kind selbst in Marie hineinfühlen – in ihre Ängste, Sorgen, Nöte“, sagt die Kriminaloberkommissarin. Sie hofft, dass nach der Geschichte ein Gefühl bleibt: „Das will ich selber nie erleben.“

Als Vorbild für Marie und Tom dienten kriminalpräventive Geschichten nach dem sogenannten Gütersloher Modell. Darin erzählen Männer und Frauen, wie sie auf Betrüger und falsche Polizisten hereingefallen sind. Die Idee dahinter: Durch Emotionen Botschaften vermitteln. Epping schrieb schon in ihrer Schulzeit gern. Sie setzte das Konzept der kriminalpräventiven Kurzgeschichten für Schulen um. Denn die Interpretation von Kurzgeschichten ist Teil eines jeden Lehrplans auf der weiterführenden Schule. Zu den Kurzgeschichten wurden Leitfäden verfasst, an denen sich Lehrerinnen und Lehrer bei der Umsetzung des Projekts im Unterricht orientieren können. Die Leitfäden kann man über die Dienststelle Kriminalprävention/Opferschutz Wesel oder über die Landespräventionsstelle erhalten. Dort gibt es zusätzlich kostenlose Workshops und Unterrichtsmaterialien für Schulen zu dem Projekt.

Laut Studien der NRW-Medienanstalt bekommt jedes vierte Kind dubiose Anfragen von Verehrern, wie es in „Marie“ beschrieben wird. Oder ihnen werden Guthabenkarten, Bonuspunkte und andere Dinge versprochen, wenn sie sich vor der Kamera entblößen.

Pling. Marie hatte Nick schließlich seinen Wunsch erfüllt: Sie machte ein Selfie, das sie im BH zeigt. Pling. Plötzlich änderte sich der Ton. Nick drohte: Zieh ihn aus, sonst landet das Foto in der Klassengruppe. Die Mädchen und Jungen der Geschwister-Scholl-Gesamtschule sind geschockt. Sie bereiten die Story nach. Eine Schülerin erzählt: „So was ist mir auch schon passiert.“ An der Tafel steht ein trauriger Kreide-Smiley. Daneben stehen Schlagwörter wie Sexting und Sextortion: das freiwillige Versenden von freizügigen Selfies und die Erpressung danach.

Pling. Die Hörgeschichte von Marie hat ein offenes Ende. Nick droht: „Morgen, 16.30 Uhr, ich will dich sehen!“ „Was ist mit Marie passiert?“, wollen die Schülerinnen und Schüler wissen. Dann klärt Sandra Epping sie auf: „Nick war ein Pädophiler. Marie hat ihn getroffen, wurde missbraucht.“ Als das Mädchen Wochen später mit ihren Eltern zur Polizei kam, bekam Epping den Fall auf den Tisch und musste Marie vernehmen. Vor ihrer Zeit in der Prävention war sie Sachbearbeiterin für Sexualdelikte.

Podiumsdiskussionen, Elternabende, Vorträge in der Erwachsenenbildung, bei Vereinen und Verbänden und natürlich an Schulen – heute läuft ihr Postfach ständig voll. Jüngst war mal wieder ein Projekttag in einem Gymnasium in Wesel. Eppings Kurs war sofort ausgebucht. Am Ende wollten die Kinder wissen: Wie können wir uns schützen? Ihr Tipp ist simpel: „Macht den Oma-Check.“ Heißt: Verschickt nur Bilder, die eure Großmutter sehen dürfte. Und: Sagt euren Eltern, wenn ihr im Netz angebaggert werdet. Die Polizei schnappt viele Fake-Täter. So wie Nick. Er bekam fünf Jahre Knast.

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